Auslandsgruß aus Tel Aviv – Studieren in Zeiten der schwersten politischen Krisen der Geschichte Israels

Blick über Tel Aviv

Spätestens seitdem auch Ryanair die Stadt anfliegt, ist Tel Aviv-Jaffa auf den Radaren europäischer Tourist*innen erschienen. So herausgeputzt wie sich die Stadt vor allem in den Frühlingsmonaten präsentierte – mit reich bepflanzten Boulevards, frisch ausgetauschtem Rasen an der Strandpromenade und dem bis auf den letzten Zigarettenstummel gesäuberte 4 Kilometer langen Stadtstrand – findet man sicherlich keine vergleichbare Stadt im Nahen Osten. Und auch das Klima enttäuscht nicht: Bei Ankunft im Januar hatte es wohlige 20 Grad und im Sommer wird es sehr, aber nicht zu heiß.

Sonnenuntergang über dem Mittelmeer

Die wirtschaftliche Entwicklung Tel Avivs ist nicht unwesentlich für den heutigen israelischen Wohlstand verantwortlich. Die Stadt ist voll mit Startups und Hightech-Firmen aus aller Welt. Hier fließt eine Menge Geld und das scheut man sich auch nicht zu zeigen. Tel Avivis sind Workaholics; wer sich dem Lifestyle nicht beugt, wird in den Großraum verdrängt. Der Ballungsraum Gush Dan um Tel Aviv beheimatet etwa vier Millionen Menschen. Nur 450 Tausend Israelis können sich den Lebensunterhalt in Tel Aviv noch eisten. Denn die Stadt ist teuer – 2021 sogar zur teuersten Stadt der Welt gekürt worden. Das Ausmaß der Gentrifizierung habe ich bisher in keiner Stadt so sehr wahrgenommen wie dort. Die Tatsache, dass leider keine Hochschule in Israel einen Partnervertrag mit der OTH abgeschlossen hat und daher hohe Studiengebühren zu bezahlen sind, macht ein Studium in Israel wohl für viele vor allem aus finanzieller Hinsicht unwahrscheinlich. Ich habe es teils aus eigenem Erspartem und teils durch das HAW.international Stipendium des DAAD finanziert. Trotzdem war das Semester ein wirklich kostspieliges Vergnügen. Einen Auszug der wichtigsten (und höchsten) Kosten während meines Auslandssemesters:

Uni-Studiengebühren (inkl. KV):

Hebräisch-Intensivkurs (verpflichtend):

Miete für WG-Zimmer im Zentrum:

Visum:

Flug:

Öffis:

7500 USD

1700 USD

950 EUR (mtl.)

ca. 50 Euro

mit Koffer, Handgepäck und Fahrrad 150 Euro einfach

nicht in den Studiengebühren enthalten aber v.a. mit Studierendenrabat sehr günstig! Eine Busfahrt kostet ca. 90 Cent; längere Strecken mit dem Bus einmal quer durchs Land ca. 8 Euro; Zugfahrten sind etwas teurer aber immer noch günstiger als in Deutschland (45 Minuten TLV-Jerusalem für ca. 4 Euro)

Lebenshaltungskosten:

Schwierig zu sagen. Wer Frisches auf dem Markt kauft, kommt günstiger weg. Israelische Supermärkte sind sehr teuer und je nach Produkt oft ein Vielfaches verglichen mit Deutschland (im Schnit schätzungsweise um die 50% mehr, Milch(ersatz)produkte sogar oft weit über das Doppelte); Streetfood ist etwas teurer als in Deutschland (aber soo lecker…), Restaurants kann man sich leider kaum leisten.

Heißt: Unbedingt Ausschau nach Stipendien halten! Und zwar rechtzeitig: Die Bewerbungsfristen enden da teilweise ein halbes Jahr früher! Stipendiengeberinnen zahlen oft die Studiengebühren ganz oder zumindest teilweise (auch Auslands-BAFÖG), was für die Meisten ein Studium in Tel Aviv schon deutlich realistischer macht.

Palästinenserinnen beim Straßenverkauf in Ost-Jerusalem
Nahost-Kultur: Tanz und Spaß am Wochenmarkt

Kulturell sollte man sich seine IHaKo-trainierte interkulturelle Sensibilität einigermaßen erhalten oder sich erneut ins Gedächtnis rufen. Der nahe Osten ist kulturell sehr vielfältig und natürlich ist vor allem auch Israel, als einziger nicht-arabischer Staat, differenziert zu betrachten. Tel Aviv ist eine Art sicherer Hafen für kulturelle Einsteigerinnen aus Deutschland. Die Stadt ist sehr international und globalisiert, Englisch wird von fast jeder Person gesprochen. Auch kulturell ist die Stadt sehr durchmischt. Israel ist ein Einwanderungsland; die meisten Einwohner*innen stammen aus jüdischen Diasporas aus aller Welt. Ich empfehle, sich vor einem Auslandsaufenthalt dort nochmals intensiver über das Judentum (und den Islam) mit seinen Traditionen und Gepflogenheiten zu beschäftigen. Mit einer sensiblen und vor allem offenen und interessierten Einstellung sollte die Stadt kulturell ansonsten wenige Herausforderungen bergen. Ganz anders übrigens in Jerusalem: Hier hat Religion einen deutlich höheren Stellenwert. Die Menschen sind konservativer und traditioneller.

Ultra-Orthodoxe Jüd*innen in West-Jerusalem (Foto: The Jerusalem Post)

Daher würde ich von einem Auslandsstudium in Jerusalem eher abraten, auch wenn die Universität ein sehr gutes Renommé hat. Sie zählt Albert Einstein und Sigmund Freud zu ihren Alumni, der internationale Bestseller-Autor und Historiker Yuval Noah Harari hält dort noch immer Vorlesungen. Doch ich denke, ich hätte mich in Jerusalem etwas eingeengt gefühlt und hinzukommt, dass Jerusalem deutlich stärker mit der Nahost-Problematik konfrontiert wird und Terroranschläge hier leider (wieder) etwas häufiger vorkommen. Außerdem hatte ich das Gefühl einer immerwährenden Spannung in der Luft, vor allem zwischen Jüd*innen und Muslim*innen – die beiden Bevölkerungsgruppen koexistieren, Vermischung ist von beiden Seiten nicht wirklich gewollt. In Tel Aviv existiert dieses Spannungsfeld auch, aber nicht so stark.

Uni Field Trip zu Begegnungsorten ultra-Orthodoxer Juden

Die Tel Aviv University, an der ich eingeschrieben war, hat einen überdurchschnittlich hohen Anteil an arabischen Studierenden und ein sehr gutes Angebot englischsprachiger Kurse. Ich habe mich vor allem für politik- und kulturwissenschaftlichen Modulen eingeschrieben; die Platzvergabe war problemlos und ohne Nachfrageüberhang, wie man es von deutschen Unis meist gewohnt ist. Die Dozierenden waren kompetent und oft namhafte Persönlichkeiten (zumindest auf nationaler Ebene). Da das Study Abroad Programm der TAU größtenteils aus US-amerikanischen IR-Studierenden mit Nahost-Fokus besteht, werden in diesem Gebiet auch die meisten Kurse angeboten. Es ist außerdem ein einmonatiger Intensivkurs in Hebräisch verpflichtend zu belegen, was einem gute Basiskenntnisse der israelischen Nationalsprache vermitelt. Die Organisation des Study Abroad Programms und Betreuung der Internationals seitens der Uni war sehr gut. Es gibt ein Student Life Team, das telefonisch, per Mail oder per WhatsApp rund um die Uhr erreichbar ist. Wir wurden vielfach dazu ermutigt, uns bei Fragen aller Art (auch und vor allem außerhalb des Campus) an sie zu wenden. Bei Sicherheitsvorfällen (Raketenbeschüsse, Terroranschläge, o. Ä.) wurden wir auch durch das Student Life Team betreut, professionelle psychologische Angebote von der Uni waren jedoch sehr teuer.

Rauchsäulen von Hamas-Raketen am Himmel Tel Avivs

Die Sicherheitslage ändert sich in Israel ständig. Aktuelle Hinweise und wichtige (Einreise-)Infos lassen sich sehr zuverlässig über den Steckbrief des Auswärtigen Amtes einsehen. Grundsätzlich wird Jerusalem aufgrund der hohen religiösen Bedeutung im Judentum und Islam und wegen seiner politischen Situation (das palästinensische Ost-Jerusalem wurde von Israel annektiert, was jedoch weder die palästinensische Autonomiebehörde noch die internationale Gemeinschaft anerkennt) deutlich ö􀀂er von Terroranschlägen heimgesucht. Andere israelische Universitätsstädte wie Haifa oder in der Metropolregion Tel Aviv (Holon, Herzliya, …) sind ähnlich sicher wie Tel Aviv. Während meiner Zeit ist es auch zu Raketenbeschüssen aus dem Gazastreifen auf Tel Aviv gekommen. Das ist eher ungewöhnlich und passiert derzeit nicht sehr oft. Und man stellt sich das in Deutschland denke ich dramatischer vor, als es sich letztlich vor Ort anfühlt.

Ein privater Sicherheitsmitarbeiter mit Maschinengewehr und Sportklamotten

Israel war sich nun mal bereits zur Staatsgründung 1948 über seine geopolitisch „ungünstige“ Lage im Klaren und der Aspekt Sicherheit wurde bei allen Projekten mitgedacht: Es gibt an jeder Straßenecke Rauchsäulen von Hamas-Raketen am Himmel Tel Avivs öffentliche, die meisten Häuser haben auch eigene private Bunker. Bahnstationen sind nur mit Sicherheitskontrolle passierbar. Es gibt wahnsinnig viel Videoüberwachung, der israelische Grenzschutz ist weltweit bekannt und für intensive Kontrollen berüchtigt. Überall sieht man Polizei, Militär oder – woran ich mich bis zum Schluss nicht wirklich gewöhnen konnte – private Sicherheitsfirmen, die auf den Straßen und Plätzen der Stadt mit Maschinengewehr patrouillieren. Auch wenn das nicht wirklich für ein erhöhtes Sicherheitsgefühl bei mir sorgte, hatte ich nie Angst oder fühlte mich unsicher. Trotzdem sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Israel regelmäßig von Terrorist*innen attackiert wird und ein paar Nerven sollte man daher mitbringen. Meiner Meinung nach sollte sich jede*r Auslandsstudent*in auch mit der Lage der palästinensischen Bevölkerung vor Ort auseinandersetzen. Das gehört ein Stück weit auch zur Verantwortung dazu, die man als Student*in an einer israelischen Universität übernimmt. Israel hat im Nahostkonflikt eine sehr vielschichtige Rolle, die in westlichen, „pro-israelischen“ Medien oft sehr undifferenziert und vor allem tendenziös dargestellt wird. Das israelische Narrativ ist omnipräsent, die palästinensische Perspektive spielt weniger eine Rolle (und bei Kritik an der Regierungsarbeit Israels werden schnell mal Antisemitismus-Vorwürfe laut).

Die NGO Breaking The Silence ist ein Dorn im Auge der israelischen Regierung. Daher wich uns auf unserer Tour durchs Westjordanland eine Polizeistreife nicht von der Seite.

Dass das falsch ist, sieht man im Westjordanland (unter israelischer Besatzung) tagtäglich. Dort treffen die Israel Defence Forces (IDF) Entscheidungen, die das Völkerrecht brechen, Menschenrechte mit Füßen treten und unterm Strich die palästinensische Bevölkerung drangsalieren und vertreiben. Die momentane Rechtsaußen-Regierung in Jerusalem gießt fleißig Öl ins Feuer und alle Zeichen deuten auf Eskalation. Ich will damit nicht sagen, dass palästinensische Terrorgruppen wie die Hamas oder der islamische Dschihad besser wären (sind sie mit Sicherheit auch nicht), aber diesem Narrativ wird denke ich im westlichen Diskurs sowieso fast die komplette Aufmerksamkeit gewidmet. Umso mehr habe ich es als Privileg angesehen, mir selbst ein Bild vor Ort machen zu können und mich mit beiden Konfliktparteien auszutauschen. Es gibt einige NGOs wie Breaking the Silence und Yir Amim, die über Missstände in palästinensischen Gebieten aufklären. Die Veranstaltungen und Touren sind meistens sehr spannend und kostenlos (oder lediglich kostendeckend, also gegen kleine Gebühr).

Nun die große Frage: Hat sich das Semester in Tel Aviv für mich gelohnt? Kurz gesagt: Auf jeden Fall! Ich persönlich kann mir kaum ein anderes Land vorstellen, wo man politisch so nah am Geschehen ist, das kulturell so vielfältig ist und gesellschaftlich so pulsiert. Es war teuer und ob sich das finanziell auch lohnt, hängt von den persönlichen Finanzierungsmöglichkeiten ab. Ich finde es schwer, das in ein Verhältnis zu setzen. Was das Preisniveau auf jeden Fall erfordert: Gute und vor allem rechtzeitige Planung.
Insgesamt konnte ich unheimlich viel Neues lernen, auch die Nachbarländer bereisen (aktuell außer Libanon und Syrien). Und Tel Aviv hat einen super schönen Strand und kaum Regentage, also was will man mehr?

Elias, IRM 4

Empfohlene Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert